Vor 40 Jahren, am 8. September 1944, zwei Stunden nach der
Urteilsverkündung durch den Vorsitzenden des Volksgerichtshofs,
Roland Freisler, durchschritt unser Kartellbruder Josef Wirmer die
kleine Tür zum Hinrichtungsraum in Berlin Plötzensee, um
gehenkt zu werden. Seine Leiche wurde nach den Usancen der Blutjustiz
noch am gleichen Tage eingeäschert. Der 43jährige
Rechtsanwalt galt als einer der führenden Köpfe der
Widerstandsbewegung gegen das NS-Regime.
Der soeben bei Econ-Düsseldorf erschienene Sammelband
»20. Juli, Portraits des Widerstandes«, den Rudolf Lill
und Heinrich Oberreuter herausgegeben haben, enthält u.a. ein
vielbeachtetes Lebensbild unseres Kartellbruders Josef Wirmer,
verfaßt von Rudolf Lill.
Eine solche Darstellung war schon seit langem überfällig.
Lill macht deutlich, daß gerade angesichts neuer
Diskussionen, in denen den Männern des 20. Juli vorgehalten
wurde, daß sie nicht hinreichend an den Maßstäben
unserer Demokratie ausgerichtet gewesen wären... Josef Wirmer
und seine engeren Freunde wie Bernhard Letterhaus (übrigens EM
d. Lgm) aus Religiosität und Rechtsbewußtsein, aus
Patriotismus und Sinn für Maß und Vernunft in der Politik
der Diktatur entgegengetreten sind und für die Wiedererrichtung
des demokratischen Rechtsstaates alle ihre Kräfte und selbst ihr
Leben eingesetzt haben.
Sie gehören in die Schar der christlichen Demokraten, die
gegenüber der Verachtung des Rechts, der Vergottung von Staat
und Partei im Nazireich die christlich-abendländischen Werte
verteidigten
wie es im Katalog zu einer von der Konrad
Adenauer-Stiftung zusammengestellten Ausstellung heißt, die
augenblicklich durch die Republik reist und in der auch eine Reihe
von KVern genannt werden.
Josef Wirmer wurde am 19. März 1901 in Paderborn geboren,
doch verbrachte er seine Jugend überwiegend in Warburg, wo sein
Vater ab 1909 Gymnasialdirektor war. Hier machte Josef, zweiter von
fünf Geschwistern, 1920 mit Auszeichnung sein Abitur.
Ein gewisser Gegensatz zu seinem konservativen Vater ergab
sich
nach Lills Meinung aus seiner aktiven Mitarbeit beim
Aufbau der Wandervogelbewegung am Warburger Gymnasium
. Seine
konsequente Absetzung vom konservativen Habitus der Generation seines
Vaters, die ihn schon als Student zum überzeugten Demokraten
werden
ließ, brachte ihm den Zunamen »roter
Wirmer« ein.
Wirmer studierte zunächst in Freiburg i.B. und dann in
Berlin, wo er 1924 das Refendar- und 1927 das Assessorexamen ablegte,
um sich dort 1928 als Rechtsanwalt niederzulassen. In Freiburg wurde
er Mitglied des »Flamberg« und in Berlin gehörte er
nach Lill zu den Wiederbegründern der »Semnonia«,
welche ... die traditionellen Reglements ablehnte und sich eher
als katholische Freundeskreis zur Förderung geistiger und
politischer Interessen seiner Mitglieder verstand.
Es sei dahingestellt, ob Lill, der den KV
persönlich wohl nicht kennt und, ohne ihm dies anzulasten, die
Wirmer betreffenden Unterlagen im KV-Archiv nicht benutzt hat, hier
die Wirklichkeit voll trifft. Nach dem KV-Jahrbuch von 1931 war
Wirmer A-Philister bei »Flamberg«, B-Philister bei
»Brisgovia«, »Guestphalia«
und »Langemarck«, sowie Ehrenphilister bei
»Semnonia«. Außerdem: Daß der CV liberaler
als unser Verband gewesen sein soll, ist sicherlich mit einem
Fragezeichen zu versehen. Wirmer war auch nie Syndikus des KV,
sondern Leiter der Berufsberatungsstelle.
Als Anwalt in Berlin schloß er sich dem betont linken
Flügel des Zentrums an und verfocht entschieden die
preußische Koalition zwischen SPD und Zentrum. Von der
weitverbreiteten Bereitschaft, mit Hitler nach dessen Wahlsieg vom 5.
März 1933 Kompromisse zu schließen, hat er sich nicht
mitreißen lassen. Er soll auch bei Kardinal Pacelli gegen den
Abschluß des Reichskonkordats interveniert haben. Als
engagierter Gegner der Nationalsozialisten kam er 1936 in Kontakt zu
dem Widerstandskreis um den Gewerkschafter Jakob Kaiser, der an dem
Programm für den Wiederaufbau eines demokratischen
Gewerkschaftswesens mit dem Ziel der Errichtung einer
Einheitsgewerkschaft beteiligte. Drei Hauptmotive trieben Wirmer zum
aktiven Widerstand: die Empörung über die Pervertierung
von Recht und Justiz
, besonders erkennbar an den Verbrechen,
gegen die jüdischen Mitbürger, der Wille zur
Wiederherhellung des Rechts und der Bestrafung der Schuldigen
(für die er dann die detaillierten Pläne entworfen hat);
die Sorge um die durch Hitlers Maßlosigkeit gefährdete
Zukunft Deutschlands
.
Ab Ende 1941 begann die Zusammenarbeit mit dem ehemaligen
Leipziger Oberbürgermeister Carl-Friedrich Goerdeler, dem
politischen Führer des deutschen Widerstandes, der Wirmer zum
Justizminister machen wollte. Im Kaiser-Kreis befürwortete
Wirmer als einziger im Frühjahr 1944 den Attentatsplan
Stauffenbergs. Er wirkte ausgleichend zwischen dem
gesellschaftspolitischen Reformismus der Gewerkschaftler und der
konservativen Grundhaltung Goerdelers und seiner Freunde.
Zeitweilig vermittelte er auch zwischen Goerdeler und Stauffenberg.
Besonders befaßte er sich mit der Reform der Justiz, der er
verschiedene Denkschriften widmete.
Nach dem mißglückten Attentat auf Hitler dachte er
nicht an Flucht, um seine Familie vor der Sippenhaft zu bewahren.
Am 4. August 1944 wurde er verhaftet und am 8. September 1944
hingerichtet, nachdem er in einem Schauprozeß verurteilt worden
war.
Sätze wie Wenn ich hänge, Herr Präsident, habe
nicht ich die Angst, sondern Sie
, oder seine Antwort auf die
Bemerkung Freislers Bald werden Sie in der Hölle sein
,
Es wird mir ein Vergnügen sein, wenn Sie bald nachkommen Herr
Präsident
, zeugen von dem ungeheuren Mut und der
Geistesgegenwart Wirmers, der zu den großen Gestalten unseres
Verbandes zählt und ein überzeugter KVer war, was ihm sogar
von Freisler vorgehalten worden ist.
Der folgende Text ist der ersten
großen Sammlung von Porträts der Widerstandskämpfer
entnommen, die 1954 unter dem Titel »Das Gewissen steht
auf - Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand von 1933 bis
1945« im Mosaik-Verlag erschien. Diese
"Lebensbilder" waren von Annedore Leber gesammelt worden.
Das Buch wurde von ihr in Zusammenarbeit mit Willy Brandt und Karl
Dietrich Bracher herausgegeben.
Die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof offenbart den
persönlichen Mut und die Unerschrockenheit von Josef Wirmer.
Wenn ich hänge, Herr Präsident, habe nicht ich die Angst,
sondern Sie.
Der nahe Tod hat diese Überlegenheit nicht angerührt.
Vielmehr bestimmen jene Eigenschaften das Bild dieses Mannes. Dem
graden und wuchtigen Wuchs entsprach eine unbeirrbare Geradheit des
Geistes, die ihn zum selbstverständlichen Widersacher des
Nationalsozialismus machte. Am 1. Mai 1933 hörte er im Radio
zusammen mit Freunden, die sich täuschen ließen, die Rede
Hitlers vom Tempelhofer Feld. Er sagte damals mit religiösem
Ernst: Ich werde der Feind Hitlers sein.
Die Geburtsstunde dieser Gegnerschaft war schon das erste
öffentliche Auftreten Hitlers; sie ließ Wirmer die
charakteristischen Züge seines Feindes erkennen und zwang ihn
bis zum Einsatz seines persönlichen Lebens, sich dem
Antichristen entgegenzustellen.
Durch Hitler sah er von Anfang an Ethos, Christentum und Kultur
bedroht. Diese Werte aber waren Teil des Wesens von Josef Wirmer,
wurden zur Notwendigkeit seines Weges als Mann, Vater, politischer
Mensch und Jurist.
Über das Rechtsbewußtsein von Wirmer schreibt sein
Bruder Otto: Seine Unabhängigkeit glaubte er am wenigsten als
Rechtsanwalt einzubüßen. Dabei war ihm in seiner
Tätigkeit das starre Regel- oder Gesetzesdenken ein Greuel, das
seiner menschlichen Verantwortlichkeit nicht entsprach. Eine rein
situationslose und typenlose Norm hielt er für ein Unding, so
aufnahmebereit sein Geist sonst für juristisch-formales Denken
war. Der Versuchung des Satzes 'autoritas non veritas facit
legem' ist er nach der Art begegnet, wie Jesus dem Versucher in
der Wüste.Es wurde ihm schließlich zur tiefsten
Überzeugung, daß das Recht nur aus einer geschichtlich
gewordenen Ordnung der Dinge erwachse und sich demgemäß
ständig gestalte.
Gegen das formelle Gesetz einer Gewaltherrschaft zu verstoßen
erschien ihm deshalb auf höherer Ebene die Erfüllung des
Rechts zu sein, dem er Zeit seines Lebens mit erfurchtsvoller Scheu
diente. Die haßerfüllten Ausfälle Freislers gerade
ihm gegenüber lassen erkennen, daß er von dem Regime als
substantieller Gegner empfunden wurde und deshalb vernichtet werden
mußte, so wie es sich bereits viele Jahr vorher in einem
ehrengerichtlichen Verfahren abzeichnete, durch das er aus dem
Rechtswahrerbund wegen seiner unerschrockenen Verteidigung rassisch
Verfolgter ausgeschlossen wurde.
Und weiter berichtet Otto Wirmer: Mein Bruder Josef war durch
den heutigen Bundesminister Jakob Kaiser mit Karl Goerdeler bekannt
geworden. Ich erinnere mich, Goerdeler häufig im Büro
meines Bruders in Berlin angetroffen zuhaben. In seiner privaten
Wohnung in Lichterfelde habe ich auch Julius Leber kennengelernt,
dort ist mein Bruder ferner mit Ulrich von Hassel, Klaus Bonhoeffer
und anderen zusammengetroffen. Er hatte mit Max Habermann, vor allem
aber mit Bernhard Letterhaus zu tun. Nach dem militärischen
Sektor stand er mit Claus von Stauffenberg in Verbindung.
Joseph Wirmer, dem der Wiederaufbau der Justiz in Deutschland
anvertraut werden sollte, wurde als einer der Hauptbeteiligten an der
Aktion vom 20. Juli unter dem Vorsitz Freislers vom Volksgerichtshof
am 8. September 1944 zum Tode verurteilt und am gleichen Tage
hingerichtet.